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Lernen über Cancel Culture

von
piapia
undjanjan
am

Wir haben den Begriff Cancel Culture lange abgelehnt, weil wir ihn hauptsächlich als Strategie von Menschen in Machtpositionen wahrgenommen haben, um sich vor Verantwortlichkeit zu drücken, wenn sie mit Fehlern konfrontiert werden.

Dabei wird oft vergessen, dass die Wurzeln dieser Praxis in Black Liberation Movements liegen – dort war das öffentliche Benennen von verletzendem Verhalten ein zentraler Weg, um Gerechtigkeit außerhalb von Systemen einzufordern, die marginalisierte Communities im Stich lassen. Mit der Zeit wurde der Begriff jedoch vereinnahmt und umgedeutet – oft von genau den Menschen in Machtpositionen, die Kritik abwehren wollen. Anstatt Verantwortung für den verursachten Schaden zu übernehmen, wird häufig der Fokus auf die Art und Weise gelegt, wie die Ungerechtigkeit kommuniziert wird. Dadurch verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom eigentlichen Problem. Wir finden es entscheidend, Menschen zuzuhören, die Gewalt und Ungerechtigkeit erfahren – unabhängig davon, wie sie diese Erfahrungen artikulieren. Es sollte immer Raum für berechtigte Wut geben.

Je mehr wir jedoch unser eigenes Verhalten in Konflikten reflektiert haben, desto mehr wurde uns klar, dass da noch mehr im Spiel ist. Wir haben beobachtet, wie sehr Bestrafung und die Angst vor Bestrafung – tief verankert in unserer Kultur – unser Verhalten in Beziehungen beeinflussen und in Situationen, in denen eine effektivere Konfliktlösung möglich gewesen wäre, zu Verletzungen und Trennung führen.

Wir haben das nicht nur in persönlichen Konflikten erlebt, sondern auch, als wir versucht haben, beim Organisieren für Palästina und Collective Liberation zu unerstützen. In Gerechtigkeits-Bewegungen gibt es immer mehr Stimmen, die betonen, wie wichtig es ist, verbindendere und wirkungsvollere Wege der Zusammenarbeit zu finden.

Als große Fans der transformativen Magie von Konfliktlösung fühlen wir uns davon angezogen, die zugrundeliegenden Dynamiken von Cancel Culture besser zu verstehen – in uns selbst, in unseren Beziehungen und unseren Bewegungen.

Unsere Perspektive

Wir nähern uns dem Thema als zwei weiße Deutsche.

Das bedeutet, dass wir uns aktuell besonders mit Folgendem beschäftigen:

  • Wie deutsche Sozialisation unser Konfliktverhalten beeinflusst
  • Der Prozess, als weiße Deutsche dazu aufzuwachen, zu struktureller Gewalt beizutragen
  • Die notwendige Shadow Work, um in Movement Spaces nachhaltiger unterstützen zu können
  • Lernen aus Erfahrungen sowohl auf der Seite des Feedback-Gebens als auch des Feedback-Erhaltens

Uns ist bewusst, dass es Zeit, Unterstützung und emotionale Kapazität braucht, um Konflikte gut zu verarbeiten – Ressourcen, die gerade den am stärksten von struktureller Gewalt betroffenen Personen oft nicht zur Verfügung stehen. Ein Teil unserer Arbeit besteht deshalb darin, Verantwortung zu übernehmen, wenn wir Zugang zu diesen Ressourcen haben – und nicht zu erwarten, dass andere die emotionale Last unseres Diskomforts tragen.

Lernprozess

Die folgenden Ressourcen helfen uns gerade dabei, unsere eigenen bestrafenden Tendenzen und Konflikt-Muster besser zu verstehen:

Wir haben bereits viele Konzepte gesammelt und werden diese weiter ergänzen und aktualisieren, während wir lernen. Wahrscheinlich werden wir auch Blogposts schreiben, um unseren Lernprozess zu dokumentieren. Wie zum Beispiel Jans Konflikt-Update.

Erste Gedanken

Hier sind ein paar Themen, mit denen wir uns in den letzten Monaten intensiver beschäftigt haben:

  • Konfliktvermeidung: Uns wird immer klarer, wie stark Konfliktvermeidung unsere Kultur prägt – angetrieben durch Angst vor Bestrafung und Angst vor „negativen“ Emotionen generell. Das zeigt sich sowohl in unseren persönlichen Beziehungen als auch in Movement Spaces. Hanna Williams bringt einen interessanten Punkt, dass Cancel Culture auch eine Form von Konfliktvermeidung sein kann – nämlich dann, wenn wir es nicht aushalten, eine andere Perspektive in Erwägung zu ziehen. Unser Ziel ist aktuell, unsere Kapazität und Resilienz zu stärken, um besser mit dem Unbehagen von Konflikten in Präsenz sein zu können.
  • Blitzableiter: Wenn wir Gewalt mitbekommen oder erleben und uns nicht bewusst erden, tragen wir die Verletzung in uns weiter, mit dem Risiko einer unkontrollierten Entladung. Auch wenn wir starke emotionale Reaktionen – besonders von marginalisierten Menschen – nicht pathologisieren wollen, haben wir beobachtet, wie unverarbeitete Schmerzen sich manchmal in plötzlichen Ausbrüchen oder im Angriff auf eigentliche Verbündete entladen können. Wir experimentieren aktuell mit verschiedenen Grounding-Methoden, um das zu minimieren und besser in die Transmutation zu kommen. Wir lernen zu unterscheiden zwischen bestrafender Entladung, die Verbindung kappt, und gerechter Ausdrucksweise, die Verständnis vertiefen oder auf Missstände aufmerksam machen kann.
  • Schatten: Verdrängte und verleugnete Anteile des Selbst finden oft sehr kreative Wege, sich Ausdruck zu verschaffen. Das Erwachen zur eigenen Verstrickung in strukturelle Gewalt bringt häufig unterdrückte Schuldgefühle und Selbstverurteilung mit sich. Außerdem sind wir in einer Gesellschaft sozialisiert, die Konfliktlösung an Hierarchien und Bestrafung delegiert – autoritäre Muster, die wir als Individuen in uns tragen, aber oft nicht wahrhaben wollen. Wenn wir das nicht erkennen, kann es passieren, dass wir versuchen, unser Umfeld möglichst schnell zu verändern – durch Schuldzuweisungen und Fingerzeigen. Der Prozess des Aufwachens kann vielleicht sogar unbewusst eigene Trauerphasen aktivieren, die das Ganze verstärken. Wir arbeiten momentan daran, mehr in die Akzeptanz zu kommen – und alle Anteile von uns selbst lieben zu lernen, um auch anderen liebevoller begegnen zu können.
  • Responsibility Mapping, Drama-Dreieck und Fetischisierung sind hilfreiche Konzepte, um dysfunktionale Konfliktdynamiken zu verstehen – insbesondere Mechanismen, die stärker betroffenen Menschen ihre Handlungsmacht absprechen. Wenn wir das nicht berücksichtigen, laufen wir Gefahr, Schaden anzurichten – zum Beispiel, indem wir versuchen, „die guten weißen“ zu sein, um unterdrückte Schuld zu kompensieren (siehe Punkt Schatten oben).