Wow, das verlief anders als geplant
Ende Juni habe ich geschrieben, dass ich mich “das Wochenende” etwas zurückziehen will, um ein paar Emotionen fließen zu lassen und Dinge zu verarbeiten, die ich verdränge.
Aus einem Wochenende wurde dann letztendlich der ganze Juli. Ich habe gemerkt, dass ich etwas mehr Abstand brauche, als gedacht, weil ich mich sehr ausgebrannt und gleichzeitig getrieben gefühlt habe.
In diesem Monat habe ich viele verschiedene Phasen durchlebt, die ich noch in Texten verarbeiten will. Heute möchte ich von meinem Wut-Brief erzählen.
Wut-Brief
Ich habe mir Ende Juli eine Woche freigenommen und mir vorgenommen, noch mal explizit meine Emotionen fließen zu lassen.
Dienstag vormittags habe ich gestartet mit einer Breathwork-Atemübung, die ich in einem Workshop von Carlagelernt habe. Die psychedelische Wirkung dieser Übung überrascht mich immer wieder: Meistens wirbelt sie einiges auf, was sich in meinem Körper an Emotionen angestaut hat und ich brauche ein paar Tage, um das dann durchfließen zu lassen und mich danach klarer und befreiter zu fühlen.
Dienstag und Mittwoch war ich dann jeweils tagsüber im Wald und am See. Ich war alleine unterwegs, bin an den See und hab das Wasser angeschaut, hab mich danach in den Wald gesetzt, die Natur auf mich wirken lassen und meditiert. Das alles mit möglichst wenig Zeit am Handy oder anderen Aktivitäten.
Und boah, hat sich das teilweise scheiße angefühlt. Einfach da zu sitzen und sich nicht gut zu fühlen und das zu akzeptieren, ohne sich abzulenken, ist schwer auszuhalten. Ich konnte mich zum Glück ab und zu daran erinnern, dass ich das bewusst mache und dass es normal ist, sich so zu fühlen, dass die Gefühle einfach durchfließen müssen. Dadurch konnte ich von außen auf die Emotionen blicken und hab nicht alle negativen Gedanken, die ich mit den Gefühlen assoziiert habe, ernst genommen.
Und irgendwie war es dann, obwohl ich mich nicht gut gefühlt habe, voll die schöne Erfahrung, an die ich mich sehr gerne erinnere, die für mich sogar mit zu den prägendsten des Jahres zählt. Ich hatte mein Leben lang so viel Angst vor “negativen” Emotionen, dass es immer darum ging, sie schnell wegzubekommen. Und jetzt lerne ich so langsam, dass jede Emotion ihre Daseinsberechtigung hat und dass es eine total schöne, rohe Erfahrung sein kann, einem Gefühl Raum zu geben, gegen das man sich so lange gewehrt hat. Die Tage waren scheiße und schön, shitty and sacred.
Mittwoch abends bin ich dann durch die Stadt gelaufen und hab was zu essen gesucht. Und irgendwie wurde ich dann unzufrieden, nichts hat so richtig funktioniert. Auf dem Heimweg hat mich dann plötzlich die Wut gepackt. Ich war wütend auf diesen “scheiß Urlaub”, dass ich “nur rumsitze und es mir schlecht geht”. War plötzlich wütend auf ganz viele Dinge, die hochkamen.
Ich konnte mich auch hier zum Glück daran erinnern, dass es OK ist, dass diese Emotionen hochkommen, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, sie rauszulassen. Also bin ich wütend heimmarschiert, hab mich in mein Zimmer gesetzt, Musik angemacht und eine Stunde lang einen Wut-Brief geschrieben. Dabei habe ich einfach alles aufgeschrieben, ohne eine Pause zu machen, ohne zu hinterfragen. Die Methode wird auch Stream of Consciousness Writing genannt. Ich wollte etwas schreiben, was niemals jemand lesen wird und mir dadurch die Möglichkeit geben, Dinge zu schreiben, die ich sonst niemals sagen würde. Ich konnte nachträglich kaum noch was davon lesen, weil es so krakelig war. Das Wort verfickt kam sehr oft vor.
Fuck, tat das gut. Ich war danach richtig aufgeladen, konnte so viel rauslassen, was sich angestaut hat, und hab danach noch mal eine Breathwork Session gemacht und dabei auch in meinem Zimmer leicht aus dem Bauch heraus geschrieen, was noch mal einiges gelöst hat. Es hat sich angefühlt wie eine schöne somatisch befreiende Übung. Danach habe ich eine extreme Klarheit gefühlt, die ich in der Form schon länger nicht mehr hatte.
Am nächsten Tag hab ich den Brief dann zerschnitten und bin zu Pia gefahren. Wir haben uns dann einen Ort gesucht, wo ich den Brief verbrannt habe. Das war noch mal ein schöner zeremonieller Abschluss.
Alchemie
Ich habe den Begriff transmute in letzter Zeit öfter im Bezug zu Aktivismus gelesen, zum Beispiel this diesem sehr guten Post von Emilia Roig zum Thema Transformative Activism.
To transmute bedeutet übersetzt umwandeln, verwandeln und hat seinen Ursprung in der Alchemie: Transmutation bezeichnet die Transformation von einem Element in ein anderes Element.
Die Machtlosigkeit, mit der man in aktivistischer Arbeit oft konfrontiert ist, zum Beispiel in Form von Repression und Polizeigewalt, löst berechtigterweise viel Wut, Angst und Trauer aus. Wenn wir diese Emotion nicht in irgendeiner Form konstruktiv nutzen, fühlen oder umwandeln können, geben wir sie weiter. Wenn ich viel in mir angestaut habe, reagiere ich schneller gereizt auf Aussagen, die von der anderen Person eigentlich gar nicht so gemeint waren. Es fällt mir schwerer, von einer guten Intention auszugehen, ich bin schneller emotional aktiviert und im Kampfmodus.
Deshalb ist es wichtig, Räume zu schaffen, in denen Wut und Trauer gefühlt und transformiert werden können. Freiräume für Menschen zu schaffen, die gerade gar nicht die Zeit und Kapazitäten haben, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Eine gerechtere, glücklichere Welt ist eine Welt, in der wir mehr Bewusstsein über unsere Emotionen haben.