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Über Träume sprechen

von
janjan
am

Es ist Sommer 2020, Pia und ich haben unser zweites Treffen. Wir sitzen auf einer Mauer im Park.

Sie erzählt mir, dass bei ihr gerade sehr viel los ist, dass sie überfordert, aber auch gleichzeitig sehr inspiriert ist. Dass es sich für sie zum ersten Mal so anfühlt, als hätte sie eine richtige Vision von der Zukunft: Mit ihren engsten Menschen zusammen in einem Haus zu wohnen und gemeinsam das Leben zu bestreiten. Was unter anderem daran liegt, dass sie eine Serie namens Tales of the City geschaut hat, in der gezeigt wird, wie queere Menschen verschiedenen Alters auf einem größeren Grundstück als Community zusammenleben.

Und irgendwas hat da bei mir Klick gemacht.

Nach Burnout und Ende einer langjährigen Beziehung 2019 hing ich etwas in der Luft. Ich fühlte mich auf dem traditionellen Lebensweg etwas “zurückgeworfen”, dachte ich muss jetzt wieder von vorne anfangen, den klassischen Kernfamilien-Pfad Beziehung-Zusammenziehen-Kinder-Haus zu bestreiten. Denn auch wenn ich mich in meinem “vorherigen Leben” einsam gefühlt habe, es war für mich doch der einzig vorstellbare Weg.

Die Zukunfts-Ideen von Pia haben mich inspiriert und tragen sich bis heute in meinen Alltag und meine Lebensphilosophie. So viel Kraft hat Inspiration.

Vorstellungskraft

Ich bin fasziniert vom menschlichen Bewusstsein, von unserer Vorstellungskraft. Wir können in die Vergangenheit und in die Zukunft reisen, können uns Welten erschaffen und in die erschaffenen Welten von anderen Menschen eintauchen. Können uns in Bruchteilen einer Sekunde verschiedene Szenarien und Gefühle ausmalen.

Wie viel schon gemeinsam erschaffen wurde durch Vorstellungskraft, Kommunikation und Kollaboration. Viele Dinge, die Menschen sich vor Jahren erträumt haben, sind heute Realität.

Wenn wir heute an die Zukunft denken, ist diese aber meist von Ängsten begleitet. Verständlich bei Themen wie Klimakrise, Faschismus, Kriegen… Es geht primär darum, etwas Schlimmes abzuwenden.

Haben wir aufgehört zu träumen?

Unsicherheit und Status Quo

Schon wieder ein Schlag: Eine Studie hat gezeigt, dass junge Menschen am ehesten die AfD wählen würden. Dass sie pessimistisch gegenüber der Zukunft sind und denken, dass diese Partei am ehesten Antworten auf ihre Ängste hat.

Im Buch “Everyday Utopia” spricht Kristen Ghodsee vom Status Quo Bias. Unser Gehirn bevorzugt das Bekannte, weil Veränderung erst mal Unsicherheit und eine potenzielle Verschlechterung bedeuten kann. Also ist der erste Reflex auf Veränderung oft alles soll so bleiben, wie ich es kenne.

In Zeiten von so rasanten Veränderungen und Krisen ist es also nachvollziehbar, dass wir uns an Bekanntem festkrallen, unsere Ruhe wollen, einfach so leben wollen, wie wir es gewohnt sind. Vor allem, wenn die Veränderung immer nur als negativ dargestellt wird, es keine positiven Entwürfe für die Zukunft gibt.

Ich glaube nicht, dass die befragten Jugendlichen die AfD wählen wollen, weil sie so gute Ideen anbietet. Sie wollen die AfD wählen, weil die AfD Sicherheit verspricht. Nur eine vermeintliche Sicherheit, aber das spielt keine Rolle.

Deshalb liegt es in unserer kollektiven Verantwortung, uns eine Zukunft zu erträumen, die besseres verspricht als der Status Quo. Es ist höchste Zeit.

Utopien

Ich habe mal gelesen, dass man Vorstellungskraft trainieren kann wie einen Muskel.

Je mehr man sich mit unterschiedlichen Lebensentwürfen auseinandersetzt, desto mehr Möglichkeiten hat man, sich seine eigene Zukunft in unterschiedlichen Szenarien vorzustellen.

Indem wir uns wieder zugestehen zu träumen, auf individueller und kollektiver Ebene, und uns von diesen Träumen erzählen, können wir uns gegenseitig inspirieren und gemeinsam eine schönere, gerechtere Welt erschaffen.

Ein gutes Beispiel für diese Übung sind Utopien. Sie regen an, neu über das Leben nachzudenken und erweitern durch Inspiration unsere Vorstellungskraft.

Tales of the City ist so ein Beispiel, was jetzt schon enorme Auswirkungen auf mein Leben hatte. Ebenso “Im Grunde Gut” von Rutger Bregman und “Everyday Utopia” von Kristen Ghodsee.

In Zeiten von kollektiver Zukunftsangst sind Utopien wichtiger denn je.

Für mehr Utopien.

Tell everyone that the future will be radiant and beautiful. Love it, strive toward it, work for it, bring it nearer, transfer into the present as much as you can from it.

– Nikolai Chernyshevsky (gefunden in Everyday Utopia von Kristen Ghodsee)